Lachmann, Karl (1793-1851): Unterschied zwischen den Versionen

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Lachmanns philologische Arbeit war zunächst nicht germanistischer, sondern altphilologischer Art (u. a. Edition der Fabeln Äsops und des Novum Testamentum Graece et Latine[[#note-1|(1)]]<div id="back-1">). Seine wissenschaftliche Bedeutung für die Germanistik gründet vor allem in zahlreichen, z. T. mit anderen Forschern gemeinsam erstellten [[Edition|Editionen]] mittelhochdeutscher Texte (darunter besonders: das Nibelungenlied[[#note-2|(2)]]<div id="back-2">, Hartmanns von Aue Iwein[[#note-3|<div id="back-3">(3)]] und Gregorius<div id="back-4">[[#note-4|(4)]], Walther von der Vogelweide<div id="back-5">[[#note-5|(5)]], Wolfram von Eschenbach<div id="back-6">[[#note-6|(6)]], Ulrich von Lichtenstein<div id="back-7">[[#note-7|(7)]]; Mitarbeit an ‚Des Minnesangs Frühling’<div id="back-8">[[#note-8|(8)]]). Aber auch für die Neuere Germanistik hat er mit einer [[Gesamtausgabe]] der Werke G. E. Lessings<div id="back-9">[[#note-9|(9)]] Enormes geleistet.
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Lachmann hat seine Editionskonzepte nicht abstrakt-deduktiv ausformuliert. Man muss sie sich vielmehr aus verstreuten Bemerkungen und vor allem durch die Analyse seiner praktischen Editionsarbeit vor Augen führen.
Lachmann hat seine Editionskonzepte nicht abstrakt-deduktiv ausformuliert. Man muss sie sich vielmehr aus verstreuten Bemerkungen und vor allem durch die Analyse seiner praktischen Editionsarbeit vor Augen führen.

Version vom 12. Januar 2017, 20:43 Uhr

Karl Lachmann gilt zusammen mit den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm als Begründer der Germanistik. Er entwickelte Editionsprinzipien, die zahlreiche Philologien in ganz Europa bis heute beeinflussen.

Explikation

Lachmanns philologische Arbeit war zunächst nicht germanistischer, sondern altphilologischer Art (u. a. Edition der Fabeln Äsops und des Novum Testamentum Graece et Latine(1)). Seine wissenschaftliche Bedeutung für die Germanistik gründet vor allem in zahlreichen, z. T. mit anderen Forschern gemeinsam erstellten Editionen mittelhochdeutscher Texte (darunter besonders: das Nibelungenlied(2), Hartmanns von Aue Iwein(3) und Gregorius(4), Walther von der Vogelweide
(5), Wolfram von Eschenbach
(6), Ulrich von Lichtenstein
(7); Mitarbeit an ‚Des Minnesangs Frühling’
(8)). Aber auch für die Neuere Germanistik hat er mit einer Gesamtausgabe der Werke G. E. Lessings
(9) Enormes geleistet.

Lachmann hat seine Editionskonzepte nicht abstrakt-deduktiv ausformuliert. Man muss sie sich vielmehr aus verstreuten Bemerkungen und vor allem durch die Analyse seiner praktischen Editionsarbeit vor Augen führen.

Lachmann begriff editorisches Arbeiten als „Kritik“ und „Kunstübung“. Sie bestand für ihn nicht im bloßen Reproduzieren von Handschriften, sondern zeichnete sich durch die kritische Sichtung der gesamten noch greifbaren Überlieferung aus, durch das wohlüberlegte Gruppieren von Textzeugen (Handschriften) und eine möglichst konsequent angewendete Variantentypologie. Lachmann formulierte sein Ziel 1816 u. a. in einer Rezension wie folgt: „Wir sollen und wollen aus einer hinreichenden Menge von guten Handschriften einen allen diesen zum Grunde liegenden Text darstellen, der entweder der ursprüngliche selbst seyn oder ihm doch sehr nahe kommen muss“
(10). Wesentlich ist, dass Lachmann einen Text nicht bloß in Form eines Abdrucks einer Handschrift in modernen Drucktypen veröffentlichen wollte, sondern dass er, sofern vorhanden, mehrere Handschriften eines Textes heranzog, sie verglich und daraus einen Editionstext konstruierte. Die Handschriften sollten gut sein, d. h. möglichst wenige Fehler aufweisen, worunter Lachmann Abweichungen von einem (natürlich bloß angenommenen) Original verstand, und sie sollten möglichst alt sein. Die guten Handschriften mussten gesucht und gefunden, abgeschrieben und – das ist das Entscheidende – sehr genau verglichen werden. Durch diesen Vergleich sollten nicht nur die Qualität der Handschriften bestimmt, sondern auch ihre Verwandtschaft ermittelt werden. Die Textzeugen waren nach Möglichkeit zu Handschriftengruppen zu ordnen, hinter denen sich verlorene Vorlagen verbargen; so sollte ein erster Schritt in Richtung Original getan werden. Diesen Arbeitsschritt, recensio genannt, glaubte Lachmann sine interpretatione, also ohne Subjektivität, ohne Deutung vornehmen zu können – eine falsche Einschätzung, denn schon die Einstufung einer Wortvariante als jünger bzw. älter (geschweige denn besser oder schlechter) ist in den seltensten Fällen objektivierbar.

Das Ergebnis der recensio war ein sogenanntes Stemma, ein Stammbaum, der die Verästelungen und Verzweigungen der Überlieferung anzeigte und an dessen Wurzel das Original oder zumindest der sogenannte Archteyp stand, eine dem Original sehr nahe kommende Textfassung. Aufgrund der Verwandtschaftsverhältnisse glaubte Lachmann, durch Anwendung objektiver Regeln echte oder doch archetypische Lesarten ermitteln zu können.

Ein nächster Schritt, die sogenannte emendatio (Verbesserung) war für Lachmann ebenfalls nicht ein Akt des bloß subjektiven Meinens, sondern eine Leistung des iudicium, des wohlbegründeten Urteils des Editors. Der durch Vergleich mehrerer Handschriften gewonnene Text (seinerseits aber nicht erhalten), der auf das ''Original'' hinweisen sollte, wurde verbessert ([Emendation|emendiert]]), und zwar überall dort, wo er Fehler zeigte, d. h. wo – gemäß dem iudicium des Editors – der Text grammatikalische, metrische oder stilistische Formen zeigte, die dem Autor (dem Original) nicht zugeschrieben werden mochten (heutzutage vermeidet man den Begriff Fehler und spricht stattdessen, weniger wertend, von Varianten). Das iudicium versuchte Lachmann durch genaues Studium z. B. der Metrik, der Grammatik, der topischen Formeln, der Häufigkeit von sprachlichen Phänomenen u. a. zu erlangen. Durch diese Operationen wollte er den letzten Schritt auf das Original hin tun. A veri similibus progredi ad vera (vom Wahrscheinlichen zum Wahren schreiten) nannte Lachmann das Verfahren in seiner Vorrede zur Ausgabe des Neuen Testamentes
(11).

Lachmann begann seine editorische Arbeit in der Altphilologie, was mit Blick auf seine mittelhochdeutschen Editionen zu einem methodischen Defizit führte. Denn Lachmann übertrug die Überlieferungsverhältnisse der klassischen Texte zu leichtfertig auf die der alt- und mittelhochdeutschen Literatur. In der griechischen und römischen Literaturgeschichte glaubte Lachmann eine weitgehend lineare, geradlinige Überlieferung vorzufinden (B schreibt von A ab, C von B, D von C usw.), was die Erstellung eines Stemmas, das Abhängigkeitsverhältnisse möglichst klar darstellen will, begünstigte. Texte aus alt- und mittelhochdeutscher Zeit sind indes in sehr vielen Fällen durch Kontamination (Vermischung von unterschiedlichen Überlieferungsstadien und -zuständen) geprägt (C schreibt von A und B ab, D schreibt von C und A ab, E schreibt von A, B, C und D ab usw.). Solche Kontaminationen, die bei der Rekonstruktion große Unsicherheiten mit sich bringen, hat Lachmann zu wenig ins Kalkül gezogen.

Ungeachtet dieser methodischen Schwäche war die erste große Phase der germanistisch-mediävistischen Editionswissenschaft (aber auch anderer Philologien in Europa) von den Vorgaben Lachmanns geprägt, und die meisten Fachvertreter waren bis in die 1950/60er Jahre hinein bemüht, hinter die positiven [Textzeuge|Textzeugen]] (die Handschriften) zurückzugehen, um sich dem Original weitestgehend anzunähern, d. h., eine archetypische Textfassung zu rekonstruieren.

Zum Wahren, Echten, Ursprünglichen zählten für Lachmann auch ein „unwandelbares Hochdeutsch“ sowie eine streng geregelte Metrik. Beide Postulate wirken bis heute in der altgermanistischen Textkritik nach. Lachmann ging davon aus, dass die Dichter der mittelhochdeutschen ‚Blütezeit’ (letztes Viertel 12. bis Ende 1. Drittel 13. Jahrhundert) eine Art Standardsprache, eine überregionale Dichtersprache gesprochen hätten, die im Laufe der Abschreibprozesse durch mundartgebundene Schreiber korrumpiert worden sei. Wenngleich die Vorstellung von einer einheitlichen mittelhochdeutschen Dichtersprache heute aufgegeben ist – allenfalls kann man von überregionalen Idiomen sprechen –, ist ein weitgehend normalisiertes Mittelhochdeutsch, vor allem die Schreibung betreffend, ein Entgegenkommen für Benutzer einer Ausgabe, um schon die lexikographische Arbeit (das Auffinden von Lemmata in einem Wörterbuch) zu erleichtern. So trifft man bis heute in den meisten modernen Editionen eine normalisierte Schriftsprache an, die freilich kaum mehr der Hypothese von einer originären Dichtersprache Rechnung trägt.

Wie die Sprache, so war – nach Lachmann – auch die Metrik in ihrem ursprünglichen Zustand recht fest geregelt, vor allem die Alternation (das regelmäßige Wechseln von Hebung und Senkung, betonter und unbetonter Silbe). Das Gesetz von der einsilbigen Senkung geht weitgehend auf ihn zurück. Das heißt: Der mittelhochdeutsche Vers (epischer wie lyrischer Art) zeige regelmäßigen Wechsel von Hebung und Senkung; zweisilbige Senkungen seien in aller Regel nicht das Ursprüngliche. Lachmann hat, dieser Prämisse folgend, vielfach zweisilbige Senkungen in seinen Ausgaben vermieden, sie durch Tilgung von Präfixen, unbetonten Endsilben (-vokalen) u. a. eliminiert. Durchgehend konsequent ist Lachmann allerdings auch hier nicht verfahren, und manche Entscheidungen bleiben etwas rätselhaft.

Lachmanns langwährender Einfluss – sein ‚Erfolg‘ – gründet zum einen in der Grundlegung und strengen Überwachung einer wissenschaftlichen Ethik, zum anderen aber auch in wissenschaftlicher Provokation. Mit Lachmanns Eintritt in die Welt der germanistischen Philologie erhielt die junge Disziplin einen Wertekanon, der sich einerseits auf das anzustrebende Ziel der Wissenschaft bezog und andererseits auf die Art und Weise des Arbeitens, um dieses Ziel zu erreichen: strenge Sorgfalt.

Lachmanns Schüler und Anhänger setzten sein Werk weiter fort, beachteten seine Regeln und verteidigten den Meister gegen Angriffe und Kritik. Lachmanns Tradition reicht bis weit in das 20. Jahrhundert hinein: Der letzte Höhepunkt des Lachmannianismus war in der Altgermanistik mit Carl von Kraus (1868–1952) erreicht, doch noch bis in die späteren 1990er Jahre finden sich sehr konservative Lachmann‘sche Positionen (z. B. von Werner Schröder vertreten). Die Wissenschaft ist aber freilich nicht bei Lachmann stehen geblieben. Die Auseinandersetzungen mit seiner Methode (besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts) hat deutliche Spuren hinterlassen, und es gibt heutzutage keinen Philologen, der Lachmanns Editionen bedenkenlos für zitierfähig halten würde. Lachmanns textkritische Leistungen müssen mit Blick auf die Zeit ihrer Entstehung gewürdigt werden. Heute sieht man vieles anders, differenzierter und genauer als er, da das Wissen über die mittelhochdeutsche Literatur, ihre Verbreitung und Tradierung zugenommen hat. Viele Hilfsmittel (Wörterbücher, Indices, Reimregister, Grammatiken usw.) stehen heute – meist auch digital – zur Verfügung, die sich Lachmann und seine Kollegen erst erarbeiten mussten.

Literatur

  • Thomas Bein, Karl Lachmann – Ethos und Ideologie der frühen Editionswissenschaft, in: Neugermanistische Editoren im Wissenschaftskontext. Biografische, institutionelle, intellektuelle Rahmen in der Geschichte wissenschaftlicher Ausgaben neuerer deutschsprachiger Autoren, hg. von Roland S. Kamzelak, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta, Berlin 2011, S. 1-15.
  • Magdalene Lutz-Hensel, Prinzipien der ersten textkritischen Editionen mittelhochdeutscher Dichtung. Brüder Grimm – Benecke – Lachmann, Berlin 1975.
  • Uwe Meves, Karl Lachmann (1793–1851), in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, hg. von Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke. Berlin, New York 2000, S. 20–32.
  • Werner Schröder: Die ‚Neue Philologie‘ und das ‚Moderne Mittelalter‘. In: Germanistik in Jena. Reden aus Anlaß des 70. Geburtstags von Heinz Mettke. 10. Januar 1995. Von Georg Machnik, Klaus Manger, Heinz Endermann, Jens Haustein, Werner Schröder. Jena 1996, S. 33–50.
  • Sebastiano Timpanaro, Die Entstehung der Lachmannschen Methode, 2., erweiterte und überarbeitete Auflage, autorisierte Übertragung aus dem Italienischen von Dieter Irmer, Hamburg 1971.
  • Harald Weigel, „Nur was du nie gesehn wird ewig dauern“, Carl Lachmann und die Entstehung der wissenschaftlichen Edition, Freiburg/Breisgau 1989.


Webressourcen

Referenzen

(1) Diese und zahlreiche andere altphilologische Ausgaben sind nachgewiesen bei Harald Weigel 1989, S. 233-235.
(2) Der Nibelunge Not mit der Klage. In der ältesten Gestalt mit den Abweichungen der gemeinen Lesart, hg. von Karl Lachmann, Berlin 1826.
(3) Iwein. Der riter mit dem lewen. Getihtet von dem Hern Hartman Dienstman ze Ouwe. Heraus gegeben [!] von G. F. Benecke und K. Lachmann, Berlin 1827.
(4) Gregorius. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. von Karl Lachmann, Berlin 1838.
(5) Die Gedichte Walthers von der Vogelweide, hg. von Karl Lachmann, Berlin 1827.
(6) Wolfram von Eschenbach, hg. von Karl Lachmann, Berlin 1833.
(7) Ulrich von Lichtenstein. Mit Anmerkungen von Theodor von Karajan, hg. von Karl Lachmann, Berlin 1841.
(8) Des Minnesangs Frühling, hg. von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Leipzig 1857.
(9) G. E. Lessing, Sämtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann. 3., auf’s neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker, Bd. 1-23. Stuttgart, Leipzig; Berlin, Leipzig 1886-1924, Nachdruck Berlin 1968.
(10) Karl Lachmann: [Rezension der Nibelungenausgabe von Friedrich Heinrich von der Hagen von 1816]. In: Jenaische allgemeine Literatur-Zeitung 132-135, 1817, zitiert nach dem Wiederabdruck in Karl Lachmann: Kleinere Schriften zur Deutschen Philologie, hg. von Karl Müllenhoff, Berlin 1876, S. 81-114, hier S. 82.
(11) Novvm Testamentvm graece et latine. Carolvs Lachmannvs recensvit. Tomvs alter. Berolini MDCCCL [1850], S. III.

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